Eigentlich könnte man meinen vor dem Meisterwerk eines Bildhauers zu stehen. Der mächtige Stamm von gut drei Metern Durchmesser regt die Phantasie an und erinnert an die steinernen spiralförmig gedrehten Säulen in einer Kathedrale. Und auch dieser Baum zählt, wie die sakralen Kunstwerke von Meisterarchitekten weit mehr als tausend Jahre.
Hier, rund um Ulldecona in der Provinz Tarragona gibt es mehr als 1.300 dieser prächtigen uralten Olivenbäume, die, wenn sie nur sprechen könnten, wohl mehr zu erzählen wüssten als manches Geschichtsbuch. Wer mag sich wohl schon am Stamm dieser Bäume niedergelassen, wer an manch heißen Tagen den Schatten unter dem weitausladenden Blätterdach gesucht haben.
Jetzt zur Erntezeit ist es geschäftig in den Olivenhainen. Und schon bald kann man das neue, frisch gepresste Öl verkosten. Deshalb sind gerade die kommenden Monate die ideale Zeit für eine Reise entlang der bisher noch nahezu unbekannten „Route der tausendjährigen Olivenbäume“. Dabei ist das Wetter noch mild, durchquert die Route hauptsächlich das nahe Hinterland der Mittelmeerküste von Katalonien und Valencia und führt ein Stück hinein in die Nachbarregion Aragonien.
Zu der Route gehören insgesamt 27 Gemeinden, davon 15 in der Comunitat Valencia, 9 in Katalonien und 3 in Aragonien, alle gelegen zu beiden Seiten des Flusses Sénia und um den charakteristischen Tozal del Rey oder Tossal de los Tres Reyes, ein Berg von 1.350 Metern Höhe. Hier treffen die drei unter den Mauren getrennten Herrschaftsbereiche von Aragonien, Katalonien und Valencia zusammen. Der Legende nach sollen sich in jenen Zeiten auf dem Gipfel des Tozal die Vertreter der drei Regionen regelmäßig getroffen haben, um ihre Angelegenheiten zu klären und zu besprechen.
Wie dem auch sei, heute ist die gesamte Region rund um den Tozal und entlang des Sénia geprägt von weiten Olivenhainen, einem Mosaik aus uralten Bäumen und Natursteinmauern, während an den Küsten rund um Sant Carles de la Ràpida am Ebro-Delta die Reisfelder wogen und weiter südlich an der Costa del Azahar in ein Meer aus Orangenbäumen übergehen. Dazwischen kleine Dörfer und Burgen, das alte Land des Volkshelden Cid Campeador. 6.358 Exemplare von mehr als tausend Jahren alten Olivenbäumen zählt die Region La Sénia und bildet damit weltweit die Gegend mit der höchsten Konzentration von Olivos Milenarios, wie sie im Spanischen heißen. Zu 96 % gehören ihre Früchte zur Sorte Farga.
Freilichtmuseen aus "Olivos Milenarios"
Den besten Überblick verschafft man sich auch gleich in einem der beiden „Freilichtmuseen“. Eines davon ist das Museo del Arion in Ulldecona an der alten Römerstraße Vía Augusta, wo wir unsere Tour beginnen. Auf einem Territorium von etwas mehr als einem Hektar kann man hier gleich 35 dieser jahrtausendealten Olivenbäume bewundern und erfährt einiges über ihre Geschichte. Das berühmteste Exemplar und wieder so ein wahres Kunstwerk von Meister Natur ist „La Farga del Arion“. Der Olivenbaum hat ein stolzes Alter von mittlerweile 1.707 Jahren. Den Ergebnissen einer Untersuchung der Polytechnischen Universität von Madrid zufolge, wurde er im Jahr 314 n. Chr. gepflanzt. Im Jahr 2006 wurde er zum besten monumentalen Olivenbaum Spaniens gekürt.
Im Jugendstilgebäude der ehemaligen Ölmühle von Ulldecona befindet sich das Tourismusbüro des Ortes, das Besuche organisiert und in dem man sich mit Informationen zu der Route und den Bäumen eindecken kann. Hier kann man sich auch einen Plan zu drei Wander- und Fahrradrouten unter dem Titel „Caminos de Olivos Milenarios“ besorgen, auf denen sich in aller Ruhe die Schönheit der stillen Landschaft und die Pracht dieser uralten Bäume im Hinterland des weiten Ebro-Deltas und seiner Strände genießen lässt.
Da sind die bizarr geformten Stämme von sieben Jahrtausendbäumen rund um Alcanar. Da wartet der „Olivo del Catxo“ in der Nähe von La Sénia, der durch ein riesiges Loch am unteren Ende seines Stammes und zwischen den weitgreifenden Wurzeln charakterisiert ist. Oder der riesige Olivenbaum von Godall, unter dessen Dach die Bewohner des Ortes gerne das ein oder andere Dorffest organisieren.
Eine andere Route führt rund um Sant Jordi mit seinen 153 tauendjährigen Bäumen, eine weitere ins Gebiet der Gemeinde Rossell weiter südlich. In Santa Bàrbara schließlich erzählt das Museum „Museo De la Vida a la Plana“ in einem ehemaligen Bauernhaus die Geschichte des Dorfes, die sich natürlich um die Bäume und das Olivenöl dreht.
Richtung Süden fahren wir nun weiter die Vía Augusta entlang nach La Jana in der Provinz Castellón in der Autonomen Region Valencia. Im Hinterland von Vinarós und Benicarlo, beliebten Ferienorten an der „Küste der Orangenblüte“, Costa del Azahar, wartet ein zweites Freilichtmuseum mit dem Namen „Museu del Pou del Mas“ auf uns. Unter den 21 Olivos Milenarios, die hier auf weniger als einem Hektar Fläche stehen, fällt besonders der mächtige acht Meter umfassende Stamm des Olivenbaums Farga del Pou del Mas auf, den die Polytechnische Universität Madrid auf das Jahr 833 n. Chr. datiert und der im Jahr 2014 den Titel des besten monumentalen Olivenbaums Spaniens trug.
Unweit von La Jana erreichen wir auf unserer Route die Orte Traiguera und Canet lo Roig. Ihre Umgebung ist die Region mit den meisten jahrtausendealten Olivenbäumen Valencias mit mehr als 1.100 Exemplaren. Und wir entdecken prachtvolle Bäume hier. So den Protagonisten des Films „El Olivo“ – „Der Olivenbaum“ von Iciar Bollaín, der wohl im Jahr 527 n. Chr. gepflanzt wurde. Sein mächtiges Dach dehnt sich weit aus über dem prachtvollen, kunstvoll von Naturhand geschnitzten mächtigen Stamm.
Eine wunderbare Wanderroute durch diese Gegend, die bereits zum Maestrazgo gehört, der Region der einstigen Ordensritter mit Burgen, urigen Dörfchen, kleinen Kapellen und einsamen, oft rauen Landschaften, führt zu einem weiteren prachtvollen Exemplar, dem „olivo de las 4 patas“ – dem „Olivenbaum auf vier Beinen“. Daneben geht es vorbei an zahlreichen anderen mächtigen, bizarr geformten Olivos Milenarios, sprudelnden Quellen und der kleinen Ermita Santa Isabel, einem wunderbaren Rastplatz.
Gastronomiegenuss inklusive
In Cervera del Maestre schließlich zeigt die alte restaurierte Ölmühle aus dem 14. Jahrhundert sämtliche Phasen der Herstellung von Olivenöl und die Geschichte des Olivenöls von den Zeiten der Römer bis in unsere Tage.
Wer sich im November und Dezember auf die Route der Olivos Milenarios begibt, wird auch einen Eindruck von der Olivenernte bekommen, wenn die Netze weit gespannt unter den Bäumen liegen und die Oliven abgerüttelt oder mit kleinen Rechen „abgekämmt“ werden. Denn noch immer bzw. wieder wird seit einigen Jahren ein ausgesprochen hochwertiges Öl aus den Früchten der jahrtausendealten Bäumen gewonnen.
Dank der gemeinsamen Initiative einiger Einheimischer entstand 2006 in der Region ein Zusammenschluss von öffentlichen und privaten Stellen und Unternehmen zum Schutz und Erhalt dieses einmaligen Naturerbes und seiner Nutzung bis auf den heutigen Tag. Es scheint kein Zufall, dass sich hier an der alten Straße der Römer, der Via Augusta, die über 1.500 km von den Pyrenäen bis nach Cádiz führt, dieses einzigartige Erbe und die hohe Konzentration an jahrtausendealten Olivenbäumen erhalten hat. Angepflanzt von den Römern und durch die maurischen Herrscher kultiviert, überlebten sie hier in einer ursprünglichen Region, die kaum große Veränderungen durchlaufen hat.
Und auch die Restaurants der Region machen mit, nachdem die Initiatoren ihnen anboten, jeweils ein Gericht mit dem Öl der tausendjährigen Olivenbäume herzustellen und im Gegenzug dafür die Rezepte in einem Buch zusammenzustellen. Zu den mehr als 30 Betrieben, die sich angeschlossen haben, gehört unter anderem das L’Antic Moli, ein Michelin-Sterne-Restaurant inmitten dieser ländlichen Region in Sant Rafael del Río an der Route gelegen.
Eine Reise entlang der Route der tausendjährigen Olivenbäume verbindet in faszinierender Weise Natur, Kultur und Gastronomie und steht dabei ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit, lässt sie doch eine jahrtausendealte Tradition über- und wiederaufleben. Weitere Informationen und die Broschüre der Region gibt es unter: https://www.oliveresmillenaries.com/en.