Die Tragflächen biegen sich, der Tankinhalt schwappt, die Beladung mit Passagieren und Fracht ist von Flug zu Flug verschieden – Flugzeuge sind hochkomplexe Systeme, die von unzähligen Variablen beeinflusst werden. Welche Auswirkungen hat es, wenn sich einige von ihnen ändern? Oder alle? Die Antworten sind künftig nur ein paar Mausklicks entfernt: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben im Projekt VicToria die Grundlagen für eine vollständige digitale Entwicklung und Beschreibung von Fluggeräten entwickelt.
13 DLR-Institute mit mehr als 160 Forschenden waren am Projekt VicToria (Virtual Aircraft Technology Integration Platform) beteiligt. „Wir sind jetzt in der Lage, virtuelle Flugversuche durchzuführen, die sich im Detail mit echten Flugversuchen abgleichen lassen“, erklärt Prof. Stefan Görtz, Projektleiter vom DLR-Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik in Braunschweig. „Das bedeutet, wir können ein virtuelles Modell eines Flugzeugs oder Hubschraubers mit all seinen Eigenschaften aufbauen.“ Das kann zum Beispiel genutzt werden, um den Passagierkomfort bei Böen oder Flugmanövern zu verbessern. Aber es geht weit darüber hinaus: Das DLR kann Flugzeuge, die es noch gar nicht gibt, virtuell entwerfen, testen und fliegen. Das schließt die Möglichkeit ein, neue Technologien zu bewerten, die das Fliegen umweltfreundlicher und wirtschaftlicher machen sollen.
Aerodynamik, Aeroelastik, Lastanalyse, Flugdynamik und Struktur in einem
„Wir schreiten konsequent voran in Richtung Digitalisierung der Luftfahrt“, sagt Prof. Stefan Görtz. Das DLR hat im Projekt VicToria, das über vier Jahre mit einem Volumen von 36 Millionen Euro gelaufen ist, alle relevanten Disziplinen zusammengeführt: Aerodynamik, Aeroelastik, Lastanalyse, Flugdynamik und Struktur. Die virtuellen Versuche mit einem „digitalen Zwilling“ des DLR-Forschungsflugzeugs ATRA wurden mit Daten aus Windkanalversuchen und aus realen Flügen überprüft. So konnten die Simulationsmodelle stetig angepasst werden. Ein Stereokamerasystem hat zum Beispiel die Verformung der Tragflächen bei verschiedenen Flugmanövern gemessen.
Die Idee, ein Flugzeug rein digital zu entwickeln und zu zertifizieren, entstand schon vor fast 50 Jahren. Damals glaubte man, auf reale Versuche schon bald verzichten zu können – ein Irrtum: Einerseits waren die Rechnerleistungen begrenzt, anderseits konnten etwa komplizierte Strömungen noch nicht richtig dargestellt werden. Das ist inzwischen mit Hilfe der Numerischen Simulation möglich. Mittlerweile gehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus, dass der Entwicklungsprozess sich zunehmend auf die Simulation verlassen wird und der Erstflug zukünftig virtuell im Rechner stattfinden wird – auch, weil sich finanzielle und wirtschaftliche Risiken so im Rahmen halten lassen. Anschließend werden die realen Experimente zur Überprüfung und Bestätigung durchgeführt. Eine künftige Zertifizierung von Flugzeugen und Hubschraubern anhand von computerbasierten Simulationen rückt nun ebenfalls näher. An entsprechenden Simulationswerkzeugen arbeitet das DLR auch im Projekt SimBaCon (Simulation Based Certification).